Diese Webseite nutzt Cookies. Wenn Sie weiter auf unserer Seite surfen, erklären Sie sich automatisch mit der Nutzung dieser Cookies einverstanden. close

Roland Goriupp: Die Wahl der richtigen Distanz

Ein Bericht von Artur Stopper | goalguard.de
Zu den sicherlich schwierigsten Aufgaben des Torhüters gehört, seine Position immer optimal an die Distanz zum Schützen anzupassen. In hundertstel Sekunden muss er entscheiden, ob und wenn wie weit er dem Angreifer entgegengeht, ob er seine Position besser beibehält oder ob er sich sogar noch etwas nach hinten absetzen soll. Doch welche Hilfen kann man dem Torhüter für seine Entscheidungen mit auf den Weg geben?
Roland Goriupp, Torwart-Chefausbilder beim Österreichischen Fußball-Bund (ÖFB), hat auf dem Torwart-Seminar-Tag von Safehands – the art of goalkeeping, der alljährlich in Bregenz stattfindet, seine Sichtweise zur richtigen Distanzanpassung des Torhüters vorgestellt. Grundlage seiner Thesen waren Untersuchungsergebnisse des ÖFB, bei denen 412 Tore aus den ersten Ligen von Deutschland, Österreich, der Schweiz und Portugal über den Zeitraum vom Dezember 2021 bis Februar 2022 untersucht wurden. Zusätzlich bezogen die Analytiker 313 Tore aus der österreichischen Toto-Jugendliga sowie die Tore der Fußball-EM 2022 der Frauen (95 Tore) in die Analyse mit ein.
Von insgesamt 10 Aspekten, die bei der Studie evaluiert wurden, griff Goriupp auf der Veranstaltung in Bregenz drei Aspekte heraus: Wie passierten die Gegentore? Wie erfolgte der Torabschluss? Aus welchen Positionen kamen die Schützen zum Torabschluss? Ziel der Untersuchung des ÖFB war herauszufinden, welche Herausforderungen in dieser Situation an den Torhüter gestellt werden und mit diesem Wissen ein Leitbild für das Training auf dem Platz zu entwickeln.

1. Wie passieren Tore?

Die folgende Grafik stellt dar, auf welchem Weg die Tore erzielt wurden
Die Grafik zeigt, dass …
  • 43 % der Tore aus einem kontrollierten Offensivspiel heraus
  • 28 % aller Tore nach schnellen Umschaltsituationen
  • 29 % aller Tore unmittelbar oder nach Standardsituationen

… erzielt wurden. Dabei gab es durchaus Unterschiede zwischen den Ligen der verschiedenen Länder, die teilweise auch die Spielphilosophie eines Landes widerspiegeln. Mit 34 % erzielten Toren nach Umschaltsituationen lag dieser Wert in Deutschland besonders hoch, während in Portugal 56 % aller Tore nach kontrolliertem Offensivspiel erzielt wurden. Roland nahm speziell die Herausforderungen für den Torhüter beim schnellen Umschaltspiel des Gegners unter die Lupe und stellte die Frage, welche Schlussfolgerungen sich aus diesen Werten für das Torwarttraining ergeben.

Der schwierigste Part für den Torhüter ist nach Goriupps Meinung, den großen Raum zwischen der Abwehrkette und der Torlinie zu verteidigen. Genau auf diese Spielsituation ist der Torhüter meist schlecht vorbereitet, da diese Situation nur beim Spiel 11 gegen 11 über das Großfeld auftritt. Da im Trainingsalltag aber überwiegend Übungsformen auf kleinerem Spielfeld und in Kleingruppen stattfinden, wird der Torhüter kaum auf diese Anforderung vorbereitet. Die Folge für die Torhüter: Sie haben zu selten die Möglichkeit, zu dieser Spielsituation Erfahrung zu sammeln. Goriupp folgert daraus, dass immer wieder Spielformen ins Training eingebaut werden müssen, in denen exakt dieses Torwartverhalten gefordert ist.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus dieser Trainingspraxis für den zweiten und dritten Torhüter. Während der Stammtorhüter zumindest im Spielbetrieb einen hohen Lern- und Erfahrungswert beim Verteidigen des Raumes hat, fehlt den Torhütern ohne Spielersatz diese Erfahrung fast gänzlich. Dadurch werden sie in ihrem Leistungsvermögen mehr und mehr gegenüber dem Stammtorhüter abgehängt.

Die Untersuchungsergebnisse zeigen des Weiteren, dass besonders im Jugendbereich viel mehr Tore nach Umschaltsituationen fallen. Im Jugendtraining sammeln die Torhüter sicherlich noch weniger Erfahrung in diesem Trainingsbereich und sind deshalb noch schlechter auf diese Spielsituation vorbereitet.

2. Arten des Torabschlusses

Einen weiteren interessanten Aspekt brachten die Untersuchungen zutage, der ist der folgenden Grafik dargestellt ist.
Demnach werden 53 % aller Tore mit dem rechten Fuß erzielt, 30 % hingegen mit dem linken. Nur 16 % der Tore entfallen auf Kopfbälle. Und noch eine Zahl wurde in den Untersuchungen sichtbar. 67 % aller Tore werden vom Boden geschossen, 33 % Volley. Interessant ist hier wieder eine Zahl im Vergleich: Bei den Frauen fielen mehr Kopfballtore als bei den Männern! Es stellt sich wiederum die Frage, was diese Untersuchungsergebnisse für das Torwarttraining bedeuten. Nach Goriupps Ansicht hat der Volleyschuss auf der Hand im Torwarttraining seine Berechtigung, wie das Ergebnis zeigt. 2/3 aller Bälle sollten aber vom Boden geschossen werden, da diese Bälle spielnaher sind.

3. Position des Abschlusses

Der dritte Analysepunkt und für Goriupp der wichtigste war die Frage, aus welcher Position die Schützen zum Torabschluss kommen. Das Ergebnis veranschaulicht das folgende Diagramm:
  • Nur 9 % aller Tore aus Distanz von mehr als 16 m
  • 17 % aus 11 – 16 m
  • 50 % aus Distanz von 6 bis 11 m
  • 24 % innerhalb des Torraumes (0 bis 5 m)

Ein Ergebnis machen diese Zahlen zusammengefasst deutlich: 73 % (also ¾) aller Tore werden aus der Zone zwischen Torlinie und Elfmeter erzielt. Doch was bedeuten diese Zahlen für das Torwartspiel? Welche Folgerungen ergeben sich daraus?

Distanzanpassung als Mittel zum Erfolg!

Eines ist für Roland Goriupp klar: Zu viele Torhüter gehen heutzutage viel zu oft und viel zu früh in den 1gegen1-Block, anstatt aus einer guten Grundposition und Balance heraus zu reagieren. Er nennt dieses Verhalten deshalb etwas verächtlich den „Alibi-Block“. Doch welches Verhalten des Torhüters schlägt er vor? Für den Chef-Torwart-Ausbilder des ÖFB ist die Distanz entscheidet für das jeweilige Torwartverhalten.

a) Schüsse aus größerer Distanz (über 16 m)

Obwohl viele Torhüter in dieser Spielsituation 2-3 m vor dem Tor stehen, plädiert Goriupp eher für ein gegensätzliches Verhalten, nämlich eine Distanzvergrößerung. Der Gedanke dahinter ist, dass sich der Torhüter durch eine größere Distanz mehr Reaktionszeit verschafft. Vom Verhalten der besten Torhüter lernen, ist sein Grundsatz. Deswegen wählte er Videosequenzen von Thibaut Courtois vom Champions-League-Finale gegen Real Madrid aus, in denen der Belgier genau dieses Verhalten zeigte. Bei einem Schuss aus 20 m Entfernung wich er vor dem Schuss 1-2 m zurück und gewann dadurch mehr Reaktionszeit.

b) Schüsse aus 11 und 16 m

Auch bei Schüssen aus dieser Distanz plädiert Goriupp für das Zurückfallen des Torhüters in Richtung Grundlinie, um sich durch die Distanzvergrößerung wiederum mehr Reaktionszeit zu verschaffen. Wieder veranschaulichte er an Beispielszenen von Courtois und Ederson dieses Verhalten. Während Courtois mit 1-2 Sprüngen zurück seine Reaktionszeit vergrößerte, gewann Ederson dadurch Zeit für eine Fußabwehr.

c) Schüsse zwischen 5 und 11 m

Zweifellos ist diese Distanz die schwierigste für Torhüter. Aber auch hier ist für Goriupp die Distanzvergrößerung ein probates Mittel, falls der Torhüter nicht in den Block mit einer Distanz unter 3 m kommt. Letztendlich hängt die Chance des Keepers nach Meinung von Roland Goriupp immer von zwei Parametern ab:
  • von der Abwehrfläche, die ein Torhüter aufbieten kann (größere Torhüter haben eine große Abwehrfläche)
  • von der Reaktionszeit, die zur Verfügung steht

Berechnungen zeigen, dass ein Torhüter etwa 1,1 Sekunden von der Tormitte bis ganz unten rechts oder links vom Pfosten braucht. Er hat also wenig Zeit, so dass er Zeit durch ungünstiges Stellungsspiel herzschenken kann. Ganz im Gegenteil: Jedes Hundertstel hilft dem Torhüter, den Ball nicht über die Torlinie passieren zu lassen.

Ein Rechenmodell untermauert diese These. Mathematische Berechnungen zeigen, dass bei einem Schuss von knapp an der Strafraumgrenze mit nur 80 km/h eine Abwehrquote von 53 % besteht, während sich dieser Wert bei einem Vorrücken des Torhüters um 2-3 m auf 28 % verringert. Zweifellos wird durch das Vorrücken die Einschussfläche verringert, aber gleichzeitig eben auch die Reaktionszeit.

Roland Goriupps Fazit heißt deshalb: Wenn nicht die Möglichkeit besteht, in eine Blocknähe von 0 – 3 m zum Schützen zu kommen, ist es besser, die Distanz zu vergrößern, um Reaktionszeit zu gewinnen, wenn es dem Torhüter gleichzeitig technisch und koordinativ gelingt, rechtzeitig in die Balance zu kommen und aus der Grundstellung zu reagieren.

Die Referenten