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Michael Gspurning: Offensivspiel – Torhüterverhalten bei Rückpässen

Seinen Vortrag begann Michael Gspurning mit einem geschichtlichen Rückblick auf das EM-Turnier 1992 in Schweden. Anhand von Szenen aus dem Spiel Dänemark gegen Deutschland zeigte er auf, warum die Einführung der Rückpassregel sinnvoll war. Eine typische Szene in diesem Spiel: Dänemarks Keeper Schmeichel spielt den Ball zu einem Mitspieler, dieser wiederum passt den Ball zu seinem Keeper zurück. Sobald ein deutscher Stürmer den Torhüter anläuft, nimmt dieser den Ball wieder mit der Hand auf. Selbst Freistöße aus der gegnerischen Spielhälfte werden manchmal zum eigenen Torhüter zurückgespielt, um Zeit zu schinden. Selbst das Pfeifkonzert der Zuschauer konnte diese Aktionen nicht verhindern. Zweifellos war dieses Taktieren regelkonform, im Sinne des Spielgedankens und der Erwartungen der Zuschauer aber nur schwer erträglich. Dänemark brachte mit dieser Spielweise den 2:0-Vorsprung über die Zeit und wurde Europameister.

Im Anschluss an das Turnier führte die FIFA 1992 als Reaktion auf die Zeitvergeudungstaktik die Rückpassregel ein. Ab sofort war es dem Torwart nicht mehr gestattet, den Ball mit seinen Händen zu berühren, wenn das Zuspiel durch einen Mitspieler der eigenen Mannschaft kontrolliert per Fuß oder Einwurf erfolgt war. Das Spiel sollte durch weniger Unterbrechungen wieder attraktiver werden.

Mit der Einführung der Rückpassregel veränderte sich aber auch das Spiel selbst. „Man sieht inzwischen immer mehr Mannschaften, die das Spiel von hinter heraus aufziehen. Für diese Spielphilosophie braucht es einen Torhüter, der einen vernünftigen Aufbau einleitet“, untermauerte Gspurning seinen Vortrag mit einem Zitat von Manuel Neuer. Der Torhüter war also ab sofort in das Offensivspiel seiner Mannschaft eingebunden und zum ersten Aufbauspieler geworden.

Zahlen und Fakten

Wie stark der Torhüter inzwischen ins Mannschaftsspiel eingebunden ist, machte der Union-Torwarttrainer an aktuellen Zahlen aus den ersten sieben Spielen der ersten Bundesliga in der laufenden Saison 2021/22 deutlich. Er verglich die drei Torhüter Florian Müller (VfB Stuttgart), Andreas Luthe (Union Berlin) und Stefan Ortega (Arminia Bielefeld). Als Ballaktionen werden Aktionen des Torhüters mit Händen und Füßen definiert. Folgende Werte brachten seine Untersuchungen für die drei Keeper zu Tage:
  •   Florian Müller: 38 Ballaktionen, 31,1 Zuspiele, 26,7 Pässe
  •   Andreas Luthe: 40,5 Ballaktionen, 34,2 Zuspiele, 28,7 Pässe
  •   Stefan Ortega: 63,8 Ballaktionen, 57 Zuspiele, 54,1 Pässe

Die Ergebnisse machen deutlich, wie sehr bei Torhütern Aktionen mit dem Fuß zugenommen haben. Sie machen inzwischen 75-80 % des Torwartspiels aus.

Wichtiger als die Anzahl an Ballaktionen ist für Michael Gspurning aber die Frage, auf welche Weise die Rückpässe verarbeitet werden. Dazu hat er in einer eigenen Analyse die Aktionen nach Rückpässen auf Luthe unter die Lupe genommen. Die wenigsten Rückpassaktionen hatte der Union-Schlussmann im Spiel gegen den FC Augsburg (11), die meisten im Spiel in Prag (22). Bei 5-10 Aktionen hatte er dabei Druckaktionen, d.h. er musste unter Zeit- und Gegnerdruck agieren. Für die Analyse des Torhüterverhaltens sind für Gspurning drei Fragen wichtig:  Was geschah? Wie hat sich der Torwart verhalten? Was können wir verbessern? Mit Hilfe dieser Fragen erarbeitet er mit seinen Torhütern dann Verbesserungsvorschläge.

Review letzter Spieltag

Anhand von Videosequenzen zum Spiel von Andreas Luthe am 7. Spieltag in Mainz zeigte Gspurning auf, wie die Spielphilosophie von Cheftrainer Urs Fischer das Handeln der Torhüter bestimmt und welche Verhaltenskodexe im Spiel von Union Berlin gefordert sind. Folgende Absprachen gibt es bei Union:
  •   - Jeder weiß, wo der andere steht! (gibt dem TH Sicherheit bei Entscheidung)
  •   - So wenig Ballkontakt als möglich! (möglichst Direktpass)
  •   - Ball immer in Bewegung halten!
Langer Ball kontrolliert auf Zielspieler!

Der Ablauf der Rückpassaktion

Im Anschluss nahm Gspurning den zeitlichen Ablauf bei einem Rückpass auf den Torhüter genauer unter die Lupe. Zunächst warf er einen Blick darauf, was der Torhüter vor der Aktion im Auge behalten muss. Seine Erkenntnis: Um für den Rückpass gut positioniert zu sein, muss er zuvor das Spielfeld gescannt haben. Des Weiteren braucht es eine gute Kommunikation mit den Mitspielern, um die Situation sicher zu lösen und sich entsprechend anbieten. Ist der Rückpass erfolgt, muss er sich auf das Anlaufen des Gegners einstellen. Mit einer guten Wahrnehmung löst er dann die Situation taktisch (lang, kurz) und technisch (Innenseite, Vollspann) mit einer aktiven Bewegung zum Ball.

Doch welche Faktoren muss der Torhüter in der Aktion betrachten? Nach Gspurnings Ansicht muss er Überzeugung und Sicherheit ausstrahlen. Die Grundlage dafür sei, dass der Torhüter seine Entscheidung bereits zuvor getroffen habe und sie deshalb ruhig und kontrolliert durchführen kann. Natürlich gehöre auch die richtige technische Ausführung (Passart, Geschwindigkeit) dazu. Der Pass sei „eine Botschaft“, weil der Torhüter damit vermittle, ob er konzentriert sei und Überzeugung ausstrahle. Noch ein Aspekt war Gspurning wichtig: Der Torhüter müsse „die Spielsituation weiterdenken“, d.h. überlegen, was er mit seinem Pass auslösen will.

Auch nach der Aktion sei der Torhüter sofort wieder gefordert. Er müsse im Anschluss die sofortige Reorganisation einleiten und die Spielfortsetzung mit seinen Mitspielern kommunizieren. Er dürfe sich als nach der Aktion nicht aus dem Spiel nehmen, sondern müsse weiterhin die Verantwortung behalten und übernehmen.

Coachingpunkte

Um die Torhüter detailliert unterstützen und bewerten zu können, zieht der Union-Torwarttrainer für die Analyse sowie die Besprechung folgende Coachingpunkte heran:
  •   - Positionierung (Offene Stellung > mehr Optionen)
  •   - Aktives Anbietverhalten
  •   - Wahrnehmung – Screening
  •   - Entscheidungsfindung
  •   - Technische Ausführung
  •   - Entschlossenheit / Überzeugung
  •   - Kommunikation
  •   - Reorganisation

Anhand der bereits angesprochenen Spielsituationen im Spiel gegen Mainz machte Michael Gspurning anschaulich, wie er das Verhalten seines Torhüters in der Aktion sieht und erläuterte, warum die zuvor angesprochenen Verhaltensweisen in der jeweiligen Situation für ihn wichtig sind.

Umsetzung im Training

Abschließend gab Michael Gspurning noch Einblicke in seine Trainingsarbeit. Für ihn sei zunächst die Frage entscheidend, was der Keeper im Spiel braucht. Aus der Analyse ergebe sich, wie sich die eigenen Torhüter verhalten und was man verbessern kann. In geeigneten Trainingsformen wird dann das gewünschte Verhalten trainiert. Gerne wendet er aber auch Technikübungen an, die mit kognitivem Stress verbunden sind, arbeitet also mit der Methodik der Überforderung. Ferner baut er manchmal Übungen ein, die eine Entscheidung forcieren. Geduldiges Verhalten trainiert er mit sogenannten No-Go-Aktionen, die eine zu schnelle Entscheidung verhindern sollen und geduldiges Abwarten verlangen. In Spielformen zusammen mit der Mannschaft übe er dann mit seinen Keepern das Verhalten unter Druck und mit Gegenspielern. Nur so könne das Anlaufen des Gegenspielers spielnah simuliert werden.

Am Ende seines Vortrags gab Michael Gspurning noch Einblicke in seine tägliche Trainingsarbeit. Er erläuterte, wie er sein Training in der Regel nach gleichbleibenden Prinzipien aufbaut ist und welche Aspekte in welcher Phase des Trainings eine Rolle spielen.

Im anschließenden Praxisteil zeigte er anhand von Übungen, wie die Wahrnehmung und das Erkennen freier Mitspieler bei einem Torhüter geschult werden können.

Die Referenten